N51.44333 E7.26694 – An eben diesen Koordinaten unserer schönen blauen Welt fiel mir vor einigen Jahren ein Farnblatt ins Gesicht. Es war der Beginn einer bis heute andauernden Verliebtheit, aber natürlich wusste ich das damals noch nicht. Das lag auch daran, dass mein Verhältnis zu allem, was man landläufig unter dem wuchtigen Containerbegriff der „Natur“ versammelt, einigermaßen zwiegespalten war: Zu dreckig, zu matschig, und erst diese achtbeinigen Insekten.
Meine Eltern erzählen zur Untermauerung dieser Einschätzung gerne die Geschichte vom „Steingarten“ ihrer Tochter (lange bevor diese Unsitte die städtischen Vorgärten eroberte): Ich bekam als Kind ein abgeteiltes Stück Garten von meinen Eltern, um mich dort gärtnerisch auszutoben. Das war wohl eine gut gemeinte pädagogische Geste meiner Eltern, auch wenn sie vom Ergebnis enttäuscht gewesen sein müssen: Denn die gärtnerischen Ambitionen ihre Tochter erschöpften sich darin, einige Ziegelsteine auf der frisch umgegrabenen Erde zu platzieren. Nach Vollendung des Werkes war das Thema der frühkindlichen Naturerfahrung dann erst einmal vom Tisch.
Der Wink mit dem Farnblatt ereilte mich Jahre später – ich studierte in Bochum, und war etwa im siebten Semester. Gerade hatte ich den BA in der Tasche und genoss die Euphorie der recht guten Note auf dem Zeugnis, plante wild meine Zukunft und erging mich in allerlei weiteren Spinnereien. Irgendjemand erwähnte, dass es an der Uni doch einen botanischen Garten gebe – ich hatte entfernt mal davon gehört. Als dann im Frühsommer die steigenden Temperaturen das gefahrlose Verlassen der Innenräume der Universität ermöglichten, besuchte ich mit zwei befreundeten Mitstudenten den Garten. Wir waren gemeinsam in einem Seminar über antike Naturphilosophie, und es erschien uns einigermaßen verwegen, die anstehenden Texte in einer adäquaten Umgebung zu lesen. Gesagt, getan: Die Tore zum Garten stand weit offen, und waren zu unserem Erstaunen nur wenige Minuten von den Hörsälen entfernt. Hier war wirklich eine andere Welt, wispernd und rauschend, die uns so einnahm, dass wir unsere Texte zu lesen vergaßen. Im Norden des Gartens gab es drei riesige Gewächshäuser, von denen besonders das exotische Tropenhaus unseren Nerv traf.
Und eben hier erwischte mich der Farn, aus bloßer Unachtsamkeit lief ich blindlings gegen die herabhängende Pflanze. Gemessen an der Steingarten-Natursozialisation war das ein kleiner Schock, zu viel Grün, trotz der hohen Temperaturen und der Luftfeuchtigkeit im Tropenhaus waren die Blätter seltsam kalt in meinem Gesicht. Ich sah mich um und war heilfroh, dass niemand die Aktion beobachtet hatte. Selbst heute, Jahre später, hängt dort noch der Farn an Ort und Stelle. Wenn ich in Bochum bin und mal wieder meine Alma mater besuche, schaue ich auch bei ihm vorbei. Unsere Begegnung hat sicher nicht das Zeug zu einem ekstatischen Erweckungserlebnis, aber es gab und gibt mir zu denken, bis heute. Das Naturphilosophie-Seminar ist längst vorbei und nicht das einzige geblieben, unzählige Bücher habe ich zu diesem Thema gelesen. Die Kühle des Farns kommt mir dann in den Sinn, wenn dieser große Begriff der Natur fällt. Was wissen wir überhaupt von ihr, wofür all die abstrakte Theorie? Genügt es nicht mitunter, sein Gesicht in einen Farn zu tauchen?
Viele Fragen hat mir der Farn mit auf den Weg gegeben. Mittlerweile blickt sie mich anders an, und ich schaue anders auf „die Natur“, weil sie eben auch dieser konkrete Farn ist. Und ich blicke anders auf meine Geschichte zurück, selbst auf den Steingarten: Meine Eltern wissen nicht, wie sehr mein Herz an diesem Steingarten hang. Durch Zufall hatte ich damals bemerkt, dass selbst dieses tote Arrangement wuseliges Leben ermöglichte – unter den Steinen entwickelte sich nach nur wenigen Tagen unzählige, terrassenförmig angeordnete Wege und Tunnel von Ameisen, die zu hunderten aufgescheucht wurden, wenn man einen der Steine anhob – die pure Lebendigkeit.
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