Man muss sie einfach mögen, die charmant-schrullige Ich-Erzählerin aus Olga Tokarczuks wundervollem, aber zutiefst traurigem Roman „Der Gesang der Fledermäuse“. Der Form nach haben wir es hier mit einer Kriminalgeschichte zu tun: Mehrere Männer kommen unter mysteriösen Umständen ums Leben, und auf die ein oder andere Weise scheinen die Hauptverdächtigen die Tiere zu sein. Besonders eine Schar Rehe scheint sich ein ums andere Mal verdächtig zu machen. Das ist wohl eine der auffälligsten Eigenheiten dieses außergewöhnlichen Textes – er traut den Tieren weitaus mehr an Agency zu als vergleichbare Literatur.
Dass insbesondere die Rehe mit den Todesfällen in Verbindung gebracht werden, überrascht umso weniger, je mehr der Roman über die zu Tode Gekommenen verrät: Der Besitzer einer Pelztierfarm ist ebenso unter den Toten wie ein bestialischer Jäger, erstickt an dem Knochen eines gewilderten Rehs; in dessen Schlingfallen schließlich auch ein weiteres, ebenso moralisch korrumpiertes Opfer den Tod findet.
Bei der Aufklärung der Fälle schwankt der Roman zwischen einer durchaus angenehmen Beschaulichkeit, aber auch der ausgelösten Schwermut: „Das Leid, das große Leid, die Traue um jedes tote Tier nimmt kein Ende. Nach dem einen kommt das nächste, und somit bin ich in ständiger Trauer. Das ist mein Normalzustand.“ Die Ich-Erzählerin Janina Duszejko, ebenso lebensklug, einsiedlerisch wie der Astrologie verfallen, ist eine glühende Verteidigerin der Tiere, sie verachtet die alltägliche, von den allermeisten einfach hingenommene Gewalt an den Tieren. Dass sie sich damit nicht überall Freunde macht, gehört wohl dazu, und vielen gilt sie als exzentrische Verrückte. Man verzeiht ihr dennoch die Zufriedenheit, die sich angesichts der Toten empfindet: „Sein Tod hatte ihn von dem Chaos befreit, aus dem sein Leben bestanden hatte. Und er hatte andere Lebewesen von ihm befreit. Ja, plötzlich wurde mir die Güte und Gerechtigkeit des Todes klar. Er ist wie ein Desinfektionsmittel, wie ein Staubsauger. Ich gestehe, dass ich wirklich so etwas dachte und noch immer denke.“
Und so spricht sie über den ganzen Roman ihr nie ermündetes und nie ermüdendes Veto gegen die scheinbar so selbstverständliche Logik des Tötens: „Als mir langsam bewusst wurde, was hier geschehen war, packte mich das Grauen. Er hatte das Reh mit einer Drahtschlinge gefangen, es umgebracht, sein Fleisch zerstückelt, gebraten und gegessen. Ein Lebewesen hatte ein anderes aufgegessen, schweigend, in aller Stille, in der Nacht. Niemand hatte protestiert, kein Blitz war hineingefahren. Doch der Dämon war seiner Strafe nicht entgangen, obwohl keine Menschenhand seinen Tod herbeigeführt hatte.“
Und besonders die Gleichgültigkeit der Kirche gegenüber den Tieren ist es, die sie zutiefst abstößt, zumal auch aufgrund einer in der Tat fatalen begrifflichen Nähe zwischen den Kanzeln der Jäger und der Priester: „Kanzeln. Schon immer hatte mich dieser Name irritiert und geärgert. Was für Lehren werden denn von diesen Kanzeln verkündet? Welches Evangelium? Ist das nicht der Gipfel des Hochmuts? Ist es nicht ein teuflischer Einfall, den Ort, von dem aus gemordet wird, Kanzel zu nennen?“
Über die 350 Seiten verfolgt man das Leiden der Protagonistin an der Mitleidlosigkeit ihrer Gesellschaft, und man hält es als Lesende/r nur deswegen aus, weil sie in aller Verzweiflung stets charmant, liebenswürdig und – nur oberflächlich verdeckt durch eine scheinbar naive Art – ungeheuer klug daherkommt. Auf unnachahmliche Weise lässt Tokarczuk ihre Protagonistin die Absurditäten einer katholischen Hubertus-Messe unterbrechen, in der der örtliche Pfarrer die Jägerschaft gewissermaßen als Stellvertreter Christi zum Himmel lobt. Duszejko versucht noch, ruhig zu bleiben – „Ich dachte, wenn es wirklich einen Gott gibt, der gut ist, dann müsste er jetzt leibhaftig erscheinen, als Lamm, als Kuh oder als Hirsch, und er müsste mit lauter Stimme brüllen oder röhren.“ Während der Predigt, die die scheinbar so aufopferungsvolle Arbeit der Jäger lobt, die Futterstellen für die Tiere einrichten, entfährt es ihr dann, und sie schreit mitten in die Predigt hinein: „Und dann schießen sie bei diesen Futterstellen auf die angelockten Tiere! Es ist wie eine Einladung zum Essen, um den Gast zu ermorden.“ Mit rührender Anmut schildert Tokarczuk die nun folgende Verwirrung, und lässt ihre Protagonistin nicht kleinbeigeben. Im Gegenteil: Sie stürmt zur Kanzel und faucht den Pfarrer an: „Dich meine ich! Hörst du nicht? Komm da runter!“
Allein schon der Genuss dieser Szene ist es wert, den Roman zu lesen, aber auch darüber hinaus ist er eine gleichermaßen erhellende und kluge, aber auch berührende Lektüre. Der Band ist wohl z.Zt. vergriffen, aber es lohnt, auf eine zweite Auflage bzw. antiquarische Bestände zu hoffen.
Olga Tokarczuk: Der Gesang der Fledermäuse, 1. Aufl., Frankfurt/M.: Schöffling & Co. 2011.
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